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Warum Lesen – Mindestens 24 Gründe – Suhrkamp Jubiläumsausgabe

Warum lesen? Ja warum denn überhaupt? Diese Frage stelle ich mir sehr oft und dieselbe Frage hat auch der Suhrkamp Verlag 24 seiner Autoren anlässlich des 7o. Verlagsjahres seit der Gründung, im Jahre 1950, durch Peter Suhrkamp, gestellt. 24 Autoren schreiben in dem Verlagsprogramm Bibliothek Suhrkamp über das Lesen, sie schreiben darüber, wie das Lesen entstanden ist, sie schreiben darüber, welche Erfahrungen sie mit dem Lesen gemacht haben und welche Erinnerungen sie damit verknüpfen. Alle Beiträge hier aufzulisten, würde dem interessierten Leser die Freude der Entdeckung nehmen.

Ich habe es bisher sehr genossen, dass Buch einfach an einer willkürlichen Stelle aufzuschlagen und den zugehörigen Text zu lesen. Ohne Lesestrategie, ohne Leseziel, einfach nur um der Unterhaltung und dem Interesse willen. Natürlich ist damit keine große existenzielle Risikobereitschaft verbunden, wenngleich die Spannung und das vorherige Unwohlsein doch stets vorhanden waren. Was wird nun kommen, werde ich den Text mögen? Bisher jedoch wurde ich immer Überrascht und habe jeden Beitrag mit großer Begeisterung gelesen.

Die Schwergewichte des Suhrkamp Verlags erzählen warum wir lesen sollten

Ein paar Namen der enthaltenen Autoren möchte ich dann doch verraten, denn es finden sich durchaus Schwergewichte des Verlages wieder: Rachel Cusk, Annie Ernaux, Andreas Reckwitz, Wolf Singer oder Jürgen Habermas.
Sie alle haben mehr oder weniger lange Texte beigesteuert, die das Buch zu einem wunderbar abwechslungsreichen Werk, pendelnd zwischen philosophischer Theorie und mitreißender Kindheitserinnerung, gemacht haben.

Buchdarstellung des Buches Warum lesen - Mindestens 24 Gründe

Mit sehr viel Liebe zum Detail, ausgewählten Schriftarten und herausragend hoher Papier- und Druckqualität

Ich kann das Buch nur jedem Lesebegeisterten ans Herz legen. Wie in meiner Septemberlektüre schon erwähnt, ist es auch bisher eines der schönsten Bücher, die ich kenne. Mit sehr viel Liebe zum Detail, ausgewählten Schriftarten und herausragend hoher Papier- und Druckqualität. So etwas findet man heute selten. So ein Buch sollte sogar den letzten Lesestoffel überzeugen können. In diesem Sinne wünsche ich euch viel Spaß mit der Lektüre und würde mich sehr über eure Eindrücke zu dem Buch freuen.

Warum lesen – Mindestens 24 Gründe – Suhrkamp Jubiläumsausgabe

Ups, das Cover konnte nicht richtig geladen werden

Verlag: Suhrkamp
Erscheinungstermin: 22.06.2020
347 Seiten
ISBN: 978-3-518-07399-5
D: 22,00 €

Oktoberlektüre

Viel zu spät erscheint meine monatliche Buchvorstellung, in der ich kurz meine kommende Oktoberlektüre vorstelle oder von anstehenden interessanten Publikationen berichte. Da der Monat Oktober nun nur noch drei verbleibende Tage hat, stelle ich die mittlerweile gelesenen Bücher überblicksartig zusammen und verweise hier auf die kommenden Rezensionen dazu.

Zwei Erzählungen von Arbeiterkindern und eine politische Vordenkerin

Mit an Bord sind diesmal drei Autoren aus dem Suhrkamp Verlag. Die auf der diesjährigen Shortlist des Deutschen Buchpreises stehende, Deniz Ohde, mit ihrem autobiographischen Arbeiterkind-Roman, Streulicht, der amerikanische Philosoph, Richard J. Bernstein, mit einer kurzen Abhandlung, wie wir Hannah Arendts Leben und – bis heute vorausschauendes – Werk auf die Probleme unserer Zeit anwenden können, in Denkerin der Stunde – Über Hannah Arendt, sowie abschließend eine – von mir lang ersehnte – Autorin, die Französin Annie Ernaux, mit ihrem Bestseller Die Jahre, ebenfalls ein autobiographisches, geschichtliches wie gesellschaftliches Zeitzeugnis eines Arbeiterkinds, dass versucht, sich seinen Platz in der Welt zu schaffen. Sie beschreibt dabei nicht nur ihr eigenes Leben, sondern gleich eine kollektive Lebenssicht auf die Dinge der Zeit.

Eine – wie ich finde – wahnsinnig spannende Auswahl, die mir beim Lesen sehr viel Freude bereitet und vor allem aber auch Möglichkeiten und Anreize zur Selbstreflexion geboten hat. Ich freue mich schon darauf, detaillierter auf die Bücher in je eigenen Buchbesprechungen einzugehen. Die Verweise dazu findet ihr dann hier oder direkt im Blog. Viel Spaß beim Lesen.

Streulicht – Deniz Ohde

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Verlag: Suhrkamp
Erscheinungstermin: 17.08.2020
284 Seiten
ISBN: 978-3-518-42963-1
Erstausgabe
D: 22,00 €

Verlagswebsite: Streulich – Deniz Ohde

Denkerin der Stunde – Über Hannah Arendt – Richard J. Bernstein

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Verlag: Suhrkamp
Erscheinungstermin: 17.08.2020
141 Seiten
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn
ISBN: 978-3-518-42944-0
D: 14,00 €

Die Jahre – Annie Ernaux

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Verlag: Suhrkamp
Erscheinungstermin: 17.06.2019
255 Seiten
Aus dem Französischen von Sonja Finck
ISBN: 978-3-518-46968-2
D: 11,00 €

Verlagswebsite: Die Jahre – Annie Ernaux

Wenn ihr noch einmal einen Blick auf meine Septemberlektüre werfen wollt, hier geht’s zur Buchvorstellung für den vergangenen September.

Rezension: Sei kein Mann – JJ Bola

Seitdem ich Vater bin, beschäftigt mich das Thema Männlichkeit. Bis dahin waren für ich mich Geschlechterrollen im Allgemeinen und meine eigene Rolle im Speziellen von untergeordneter Bedeutung. Selbstverständlich war ich mir dem gesellschaftlichen Diskurs, beispielsweise zu Diversität oder Feminismus, bewusst, habe bei gegebener Notwendigkeit zweifelsohne eine Position der Gleichberechtigung vertreten, doch diese Notwendigkeit hatte sich bisher vorrangig auf Diskussionen im Privaten bezogen. Ich führe es darauf zurück, dass sich meine – größtenteils unbewussten – persönlichen Gefechtslinien im Laufe meines Lebens, aufgrund meiner sozialen wie familiären Herkunft, vorrangig an den Grenzen ökonomischer wie bildungsbezogener Milieus befand.

Höhere Bildung trägt zur Bewusstmachung gesellschaftlicher Ungleichheiten bei

Einen wahrnehmbaren Nachteil aufgrund meines Geschlechts hatte ich bis auf wenige Ausnahmen, vor allem solchen in früher Kindheit, welche ich mir im Laufe meiner Jugend als mir eigentümliche Schwächen einverleibt hatte, kaum ausmachen können. Für mich war es stets selbstverständlich, dass ich Menschen gleich behandle, es sei denn sie wollten mir bewusst schaden oder mich einschränken, ganz nach dem Motto: Lässt du mich in Ruhe, lasse ich dich in Ruhe, willst du mich einschränken, werde ich mich (gewaltlos) dagegen wehren. Erst durch höhere Bildung und das Erwachsenwerden wurde ich auf den Befund der geschlechtlichen Diskriminierung aufmerksam und erst durch meine Vaterschaft kam ich direkt damit in Kontakt.

Es ist tatsächlich erstaunlich, wie wenig und wie wenig tiefgreifend das Thema männliche Geschlechterrollen in der breiten Öffentlichkeit diskutiert wird. Auch wenn hier natürlich nicht direkt vom Tatbestand der Diskriminierung im Sinne einer Benachteiligung gesprochen werden kann, so werden doch über die Generationen hinweg gewisse einschränkende Stereotype geprägt, die beispielsweise durch die feministische Bewegung heute deutlicher denn je zutage treten. Denn, so wie diese Strömungen ihre sie einschränkenden Grenzen scharf beschreiben und darstellen können, so werden damit gleichermaßen auch die Bereiche außerhalb dieser Grenzen festgeschrieben. Die Bereiche, die, verallgemeinernd und denunzierend, den männlichen Teil der Bevölkerung repräsentieren sollen. Es sind nun gewissermaßen beide Seiten von dem Problem der Rollenfestschreibung betroffen.

Ein provokantes Cover aus dem neuen hanserblau Verlag

Aus diesem Grund war ich sofort neugierig auf JJ Bolas neuestes Buch „Sei kein Mann – Warum Männlichkeit ein Albtraum für Jungs ist“. Schon der Titel scheint mir eine Aufforderung an uns Männer zu sein, sich einem tradierten Rollenverständnis entgegenzustellen. Unterstützt wird das Auftreten des Buches aus dem Berliner hanserblau Verlag, eine Erweiterung des Traditionsverlags Hanser, zusätzlich durch die provokant herausstechenden und klischeehaften Farben blau und rosa, welche wohl, flächengleich diagonal aufgeteilt, einen je männlichen wie weiblichen substantiellen Anteil am männlichen Geschlecht repräsentieren sollen. Vielleicht sollen sie aber auch stellvertretend für den binären Grundcharakter unseres vererbten geschlechtlichen Weltbildes stehen. Vielleicht aber ist es auch einfach eine trendartige Vergegenständlichung eines Schlagwortes, die Verbildlichung eines effekthascherischen Hashtags, wie sie heute in den sozialen Medien vorkommen. Schließlich aber bleibt es dem Käufer überlassen, wie er das Cover interpretiert.

Bis ich begonnen habe das Buch zu lesen, war mir der hanserblau Verlag selbst kein Begriff, die Zielgruppe und das restliche Programm war mir unbekannt. Nach dem ersten Kapitel und einer kurzen Verlagsrecherche wurde mir aber schnell klar, dass JJ Bolas Buch sehr gut in das Verlagsprofil passt, welches sich auf ein „populäreres und breitenwirksames Programm“ spezialisiert hat und das Buch vermutlich in der Kategorie „aktuelle meinungsstarke Sachbücher“ rangiert. Den Fokus würde ich nach der Lektüre auf das Adjektiv „meinungsstark“ legen, denn einem journalistischen oder gar wissenschaftlichen Anspruch an Faktizität kann das Buch nicht genügen, aber das war wohl auch gar nicht bezweckt. Vielmehr schildert der Autor seine persönliche Sicht der Dinge, versehen mit Statistiken, die allgemeine Zusammenhänge darstellen und wohl als Referenz seine Aussagen unterstreichen sollen. Das Buch kann somit als subjektive Betrachtung eines durchaus existierenden Problems gelesen werden, der einführende Charakter in das Thema Sexismus und die Ausrichtung auf eine wohl jüngere Zielgruppe, dominiert das Format.

JJ Bola spricht von seinen eigenen Erfahrungen – emotional und mutig

Inhaltlich befasst sich JJ Bola in seinem Buch mit den „Mythen der Männlichkeit“, den Themen männlicher Gewalt und Aggressivität, „Liebe, Sex und Einvernehmlichkeit“ sowie der „Geschlechtergleichstellung und Feminismus“. Weiter streift er die Themen „Männlichkeit in Zeiten von Social Media“, „Männlichkeit und Sport“ sowie „Transgression und Transformation“. Das Inhaltsverzeichnis übernimmt in der deutschen Übersetzung die metaphorischen und einer Hookline ähnelnden Aussagen dem englischen Original und ergänzt sie mit den oben erwähnten Inhalten in deutscher Sprache.

Einleitend schildert der ursprünglich kongolesische Autor eingängig eine Szene aus seiner Jugend in einer Londoner Brennpunktsiedlung. Dabei schließt er sich einer Gruppe Männer aus seinem Heimatland Kongo an, allesamt – für die westliche Gesellschaft eher unüblich – Onkel genannt, obwohl keine Blutsverwandtschaft besteht, die zum Essen zu einem der Onkel händchenhaltend nach Hause gingen. Händchenhaltend, ja, auch das ist unter westlichen Männern unüblich und besonders bei Jugendlichen ruft dieses Bild Verwunderung hervor. JJ Bola war bekannt unter den Gangs des Viertels und hatte sich seine „street credibility“ erfolgreich aufgebaut, kurz: er wusste was zählt um respektiert zu werden. Doch das schien nun im Beginn des Bröckelns zu sein, nachdem ihn die anderen Jugendlichen der Gegend mit dieser auffälligen Gruppe, in traditionell kongolesischem Obergewand, gehen sahen.

Wie das Patriarchat zu JJ Bolas größtem Feindbild wurde

Neben dieser autobiographischen Hinführung zum Thema ist der restliche Teil des Buches größtenteils thesenartig abgehandelt. Der Grundcharakter der Aussagen und Forderungen ist zweifellos emotional und zeigt die persönliche Verbundenheit JJ Bolas mit dem Thema Männlichkeit oder in den Worten des Autors: dem Patriarchat. Damit bezeichnet er sein Feindbild, die herrschende Normalität und zugleich Dominanz des tradierten männlichen Rollenbildes, welches sich in allen Lebensbereichen festschreibt, „von der Familie bis hin zu Wirtschaft und Arbeitsplatz“.

Ein Feindbild, dass ihn seine Kindheit und Jugend bis hin zum Erwachsenenalter begleitet hat, als eine namenlose und unsichtbare Realität, die erst mit dem Älterwerden begreifbar wird. Er schreibt selbst, dass einer seiner „größten Beweggründe, dieses Buch über Männlichkeit zu schreiben, war, wie gerne ich solch ein Buch gelesen hätte, als ich ein Teenager war, der mit seinen eigenen Männlichkeiten zu kämpfen hatte.“
„Männlichkeiten“, dies ist auch ein Begriff, der in diesem Buch hervorgehoben wird, primär durch ein Zitat von „Tom“, „denn es gibt so viele Formen davon.“ Gemeint ist damit, dass auch das weibliche wie das neutrale Geschlecht „ihren eigenen Zugang zur Männlichkeit finden.“

Zehn Handlungsanweisungen für eine radikal neue Vision von Männlichkeit

Im letzten Kapitel führt JJ Bola überblicksartig und, dem Grundcharakter des Buches folgend, knapp, „eine Liste mit zehn Handlungsanweisungen“ auf, die den gängigen Stereotypen entgegenwirken können sowie die eigene Persönlichkeit stärken, um „eine radikal neue Vision von Männlichkeit [zu] schaffen“. Unter anderem rät er darin Jungen, jungen Männern und Männern, beispielsweise Tagebuch zu führen, um Raum für Selbstreflexion zu schaffen, indem man die eigenen Gefühle und Gedanken in den Vordergrund rückt. Ein weiterer Punkt der Liste sind männliche Support-Gruppen, in denen man unter Gleichen „sich ausheulen, lachen und einfach zusammenkommen“ kann.

Vor allem diese beiden genannten Beispiele kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Sie machen tatsächlich einen Unterschied und sollten womöglich viel umfangreicher etabliert werden. Vielleicht kann dieser Blogartikel einen Anstoß dazu geben und ich werde vielleicht noch einen Artikel zu dem Thema Männergruppen schreiben. Im Kontext Kinderbetreuung macht das in jedem Fall Sinn, aber auch bezüglich der alltäglichen Themen.

Eine Kaufempfehlung für junge Leser

In Bezug auf das Buch kann ich für jüngere Leser eine klare Empfehlung aussprechen. Älteren Lesern, vor allem solchen mit bestehendem Hintergrundwissen und einer Auseinandersetzung mit der Thematik, gilt die Empfehlung nur bedingt, denn hier wird das Buch mutmaßlich nur wenig neue Erkenntnisse bieten. Da es nur wenig aktuelle Bücher zum Thema Männlichkeit gibt, kann auch hier genau dies ein Grund für eine willkommene Abwechslung sein.

Weiter muss natürlich angemerkt werden, dass das Buch keinen Anspruch auf journalistische oder gar wissenschaftliche Genauigkeit und Gründlichkeit hinsichtlich der Recherche und Literaturverwendung bietet. Das Literaturverzeichnis besteht vorrangig aus Internetquellen, ein bunter Strauß aus Online-Zeitungen, Boulevardmedien und Blogs. Das nahezu keine Bücher gelistet sind, mag dem bewusst oder unbewusst ausgewählten Blickwinkel des Autors geschuldet sein, es ist aber auch möglich, dass es schlicht sehr wenig Literatur zum Thema gibt. Mich würde eine Literaturrecherche zum Thema tatsächlich sehr reizen. In jedem Fall bin ich gespannt, ob wir von dem Autor JJ Bola in Zukunft noch mehr hören und lesen werden.

Sei kein Mann – Warum Männlichkeit ein Albtraum für Jungs ist – JJ Bola

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Verlag: hanserblau
Erscheinungstermin: 17.08.2020
160 Seiten
ISBN: 978-3-446-26798-5
D: 16,00 €

Verlagswebsite: Sei kein Mann – JJ Bola

Rezension: Das lügenhafte Leben der Erwachsenen – Elena Ferrante

Ich bin mir nicht mehr sicher, was mich dazu veranlasst hatte, „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“, von Elena Ferrante, zu kaufen. Rückblickend war es wahrscheinlich meine Neugier, ja, schon fast ein voyeuristisches Verlangen, tiefe Einblicke in das Leben einer anderen Person zu erlangen, zu verstehen, wie sie mit den Unzulänglichkeiten des Lebens umgeht, ganz besonders in der Kindheit. Auch wenn ich bald Mitte Dreißig und verheiratet bin, einen Sohn und einen festen Job habe, mit dem ich meine Familie locker über die Runden bringe, quasi all das, das man aus traditionellen Rollenverständnis heraus für ein vollständiges Erwachsenenleben braucht, so hadere ich doch noch regelmäßig, wenn auch nicht mehr täglich, mit meiner Kindheit und Jugend. So waren meine ersten vierzehn Lebensjahre doch deutlich vernebelter und gegensätzlicher, als die der – zu Beginn des Romans zwölfjährigen – Neapolitanerin, Giovanna, der Hauptfigur in Ferrantes neuestem Roman.

Ferrantes, Giovanna, ein junges Mädchen aus gutem Hause

Die Blickrichtung des Entwicklungsromans wandert von der Auseinandersetzung der Protagonistin mit sich selbst, zum Zeitpunkt der sich einstellenden Pubertät, hin, zu ihrem direkten und indirekten, familiären wie freundschaftlichen, Umfeld, und wieder zurück.
Aus einem gebildeten und gut situierten Elternhaus stammend, das beschreibt Ferrante im Laufe der Erzählung auf einer zweiten Ebene detailreich durch die sozialräumliche Struktur Neapels, erlebt die junge Giovanna schon früh, was es bedeutet, sich in intellektuellen Kreisen zu bewegen. Der Vater, Andrea, Lehrer der Fächer „Geschichte und Philosophie am namhaftesten Gymnasium Neapels“ und Co-Autor wissenschaftlicher Aufsätze, die er zusammen mit seinem engsten und ältesten Freund, Mariano, verfasst. Die Mutter, ebenfalls Gymnasiallehrerin, unterrichtet die Fächer Latein und Griechisch und korrigiert in ihrer Freizeit Liebesromane.

…bei ihr zu Hause ist Dialekt tabu.

Auf der Gegenseite, oder besser unterhalb – räumlich wie sozial gesehen – ihres kindlich begrenzten und bekannten Lebensraums, befindet sich die Familie väterlicherseits. Im Grunde ist es nur noch Giovannas Tante, Vittoria, und deren Wahlfamilie, welche – seltsamerweise – aus der Ehefrau und den Kindern ihres verstorbenen Geliebten besteht. Sie leben in der Zona Industriale, von Giovannas Elternhaus aus gesehen, welches sich im hochgelegenen und wohlhabenden Stadtviertel Rione Alto, genauer in der Via San Giacomo dei Capri, befindet, liegt Vittorias Wohnort am anderen Ende der Stadt und gleichzeitig auch in einer der heruntergekommensten und wirtschaftlich schwächsten Gegenden Neapels. So wundert es nicht, dass auch Vokabular und Ausdrucksweise die sozialen und ökonomischen Gegebenheiten widerspiegeln. Ferrante, oder besser Giovanna, unterscheidet hier zusätzlich zwischen Dialekt und Italienisch. Findet sich in der Zona Industrale vorwiegend Dialekt wieder, so spricht man in Rione Alto einwandfreies Italienisch; Giovanna hingegen kann selbst gar kein Neapolitanisch sprechen und versteht dies mitunter auch nicht immer vollends – bei ihr zu Hause ist Dialekt tabu.

Wie ein einzelner Satz das ganze Leben verändert

Giovannas Eltern haben Vittoria bis zu ihrem zwölften Lebensjahr vollständig aus der Familie herausgehalten. Giovanna wusste nicht einmal wie sie aussah, sie wusste nur von ihrer „Hässlichkeit und Boshaftigkeit“; aus Nellas, Giovannas Mutter, und Andreas Sicht ist es eine dunkle Vergangenheit, die sie bewusst vor ihrer Tochter verbergen wollten. Diese wohlmeinende Ausblendung konnten die Eltern aufrecht erhalten, bis Giovanna eines Abends ein Gespräch der beiden belauschte, in dem ihr Vater schlussfolgerte, seine Tochter komme nun ganz nach ihrer Tante Vittoria. Giovanna war zu diesem Zeitpunkt ein Mädchen, das zusehends mehr von ihrer Pubertät vereinnahmt wurde. Sie nahm die Veränderungen ihres Körpers wahr, fühlte sich immer unwohler, entdeckte neue Ebenen von Scham und Angst. Zudem wurden ihre Leistungen in der Schule schlechter, was überhaupt erst zu dem Gespräch der Eltern, in dem besagter Satz fiel, geführt hat.

So ist es nur verständlich, dass das junge Mädchen den väterlichen Vergleich zunächst auf ihr Äußeres bezog. Sie wollte nun unbedingt wissen, wie ihre Tante aussieht und ob sie wirklich Ähnlichkeit mit ihr besitze.
Es dauerte nicht lang und sie hatte einen ersten Kennenlerntermin mit Vittoria vereinbart. Schon das zuvor geführte Telefonat wühlte sie auf und verschreckte sie, ob der derb-vulgären Sprache ihrer Tante, doch dass dieses kommende und die darauffolgenden Treffen ihre Sicht auf die Welt, wie sie sie bisher kannte, völlig auf den Kopf stellen würde, ahnte sie bis dahin noch nicht.

Der kindliche Blick hinter die Kulissen, oder: Realität

Ferrantes Erzählung entwickelt sich von hier ab in zwei Strängen, einem Hauptstrang und einem unterschwelligen Nebenstrang, der Giovannas aufkommende Sexualität schemenhaft und völlig ohne Ausschmückungen skizziert. Im Hauptstrang fächert sich Giovannas bisheriges, eher zurückhaltend und ereignisloses Dasein, durch den Eintritt Vittorias in ihr Leben, rasant in ein emotionales Beziehungsgeflecht auf. Es entstehen Verbindungen zu neuen Menschen und neue Rollen kommen hinzu, die Giovanna gekonnt zu spielen weiß. Sie lernt, dass nicht immer alles so ist, wie es im ersten Moment zu sein scheint und sie lernt, dass auch sie diese Erkenntnis gewinnbringend für sich nutzen kann. Sie beginnt die Menschen in ihrem Umfeld zu täuschen, sie beginnt von Dingen zu erzählen, die ihr einen Vorteil oder zumindest keinen Nachteil einbringen, kurz: Sie beginnt den Leuten zu erzählen, was sie hören wollen.

…eine Welt voller Begierde und Täuschung

Die Erkenntnis, das sich hinter ihrer, bis zu diesem Zeitpunkt, kindlichen Welt, noch eine Weitere, eine Welt voller Begierde und Täuschung, verbirgt, macht ihr gleichwohl schwer zu schaffen. Ihr bisheriges Leben gerät aus den Fugen, und auch das ihrer Eltern bleibt davon nicht unberührt, nachdem klar wird, dass sich auch ihr engster Familien- und Freundeskreis der Heuchelei nicht entzogen hat. Giovanna taucht von hier an mit einem Kopfsprung ein in ein pubertäres Lebensloch, dunkel und voll von Zweifeln, Ängsten und neuen Empfindungen. Die vormals elterliche Zuflucht, der sichere Hafen, beginnt sich aufzulösen. Doch auch Vittoria scheint ihr kein verlässlicher Anker zu sein, wenngleich sie Giovanna sogar vom religiösen Glauben überzeugen will, den diese von Kindertagen an gelernt hat abzulehnen, ganz im Sinne einer aufgeklärten Erziehung.

Es ist eine Zeit des Pendelns zwischen einer brüchig werdenden Vertrautheit elterlicherseits und einer reizenden Grenzüberschreitung auf Seiten der Tante. Hier lernt sie nochmals eine andere, scheinbar ursprünglichere, unverfälschtere Realität kennen. Ohne kluge Worte, die die realen Dinge, die dahinter liegen, verschleiern. Eine für sie sehr unmittelbare Lebenserfahrung, wenngleich sie durch ihre Bildung und ihren Intellekt diese Welt äußerst gut mit gebotenem Abstand betrachten kann und die Unterschiede zu ihrem bisherigen Leben herausarbeitet.
So verstreichen die Erlebnisse in Ferrantes kurzweiliger Erzählung bis Giovanna gegen Ende die Erfahrung einer – zugegebenermaßen – unerwiderten Liebe erlebt, die dem Leser doch noch einmal tröstlich ihre Jugendlichkeit und Unerfahrenheit, obgleich ihrer intellektuellen Aufgeklärtheit, vor Augen führen.

Ein gelungener Roman, der dazu einlädt, die eigene Jugend noch einmal zu reflektieren

Gesamthaft betrachtet bleibt für mich einerseits der Eindruck eines wunderbar geschriebene Romans zurück, der wenig Zweifel an der Echtheit seiner erzählten Gegebenheiten aufkommen lässt. Die Sprache passt sich hervorragend den erzählten Szenen an und kann einen sowohl mitreißen, sowie sie einem auch die nötigen Pausen zum Verarbeiten des vorher gelesenen einräumt. Hier zeigt sich – aus meiner Sicht – der erfahrene Autor, der es vollends versteht, den Leser zu führen und zugleich den nötigen Raum lässt, um die eigene Bildwelt gedanklich aufzubauen.
Andererseits hinterlässt der Roman bei mir auch ein unterschwelliges Gefühl der Wehmut, denn Giovannas Erfahrung in diesem frühen Lebensabschnitt sind doch sehr aufgeklärt, selbstbestimmt und umfassend. So kann ich das aus meiner Jugend nicht erinnern. Das beschriebene pubertäre Lebensloch hat bei mir selbst zwar nicht bis heute angehalten, die Erlebnisse darin, und gleichfalls ihre Auswirkungen auf meine Persönlichkeit und mein Leben, habe ich bis heute nicht gänzlich verstanden und verarbeitet. Es scheint mir, und das schließe ich aus diesem – zugegebenermaßen – kleinen Einblick in das Leben eines jungen Mädchens, als ob sie ohne große Blessuren aus dieser pubertären Phase wieder heraustreten könne.

Alles in allem eine absolute Leseempfehlung meinerseits. Als Ferrante-Neuling hat mich die Autorin sprachlich wie erzählerisch umfassend überzeugt und ich werde mich demnächst aufmachen, Ferrantes hochgelobte Buchreihe, „Neapolitanische Saga“, bestehend aus vier Bänden, zu besorgen.
Sobald es soweit ist, erfahrt ihr es natürlich hier auf dem Blog sowie auch auf Instagram.

Das lügenhafte Leben der Erwachsenen – Elena Ferrante

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Verlag: Suhrkamp
Erscheinungstermin: 29.08.2020
415 Seiten
ISBN: 978-3-518-42952-5
D: 24,00 €

Der moderne Flaneur

Wie kann er das nicht hören, frage ich mich. Ich würde mir gerne die Ohren zuhalten, so laut ist das. Je mehr ich darüber nachdenke, umso klarer wird mir, dass das sein gewohntes Hintergrundrauschen ist. Ein natürliches Klangbild seines Daseins, das ihm Vertrautheit vermittelt. Wo ich innerlich zusammenzucke, wird das Bild für ihn erst vollständig. So auch bei dem ohrenbetäubenden Lärm des Martinshorn eines Krankenwagens, der direkt an uns vorbeirauscht.

Zu Hause in der Anonymität der Großstadt

Doch das Kind schläft ganz friedlich. Er ist es gewohnt, sich – in der Hektik und dem Trubel der Großstadt – eine Auszeit zu gönnen. Er ist ein Meister darin, inmitten all der geschäftigen Anonymität, in sich zu kehren. Er klinkt sich aus, spielt nicht mit, bei den gesellschaftlichen Spielchen, die wir uns im Laufe der Zeit zu Eigen gemacht haben. Zeitdruck und Erscheinungsbild: Dinge, die ein Baby nicht interessieren.

Die moderne Vaterrolle – immer noch ein Fremdkörper in der Gesellschaft

Was jedoch heraussticht, das bin ich – so bilde ich es mir zumindest ein. Das Kind ist natürlich nicht freischwebend, also nicht körperlich, auch wenn das für seinen geistigen Zustand sehr wohl zutreffen mag. Nein, ich trage das Kind direkt an mir, im Tragetuch. Jenes krakenartige Ungetüm stofflicher Beschaffenheit, bei dessen Anblick sich auch geübten Denkern die Bindetechnik nicht vollends erschließt. Und dieses Bild ist auch dem eingefleischten Großstädter noch etwas fremd. Es scheint mir, als habe ich mich noch nicht vollständig in das natürliche Rauschen der Stadt integrieren können.

Der klassische Flaneur – unauffälliger Teil inmitten des Stroms

Ganz anders der klassische Flaneur. Seine Unauffälligkeit zeichnet ihn aus. Er geht förmlich unter im pulsierenden Strom aus Menschen. Alle scheinen ein Ziel zu verfolgen und doch lebt jeder für sich selbst. Der Flaneur ist Beobachter und Teilnehmer zugleich. Er versteht es, sich unauffällig in der Großstadt zu bewegen. Hier ist sein natürlicher Lebensraum. Und trotz dieser Befangenheit schafft er es, eine Metaebene zu erreichen.

Durch Entschleunigung zu mehr Gelassenheit

Das muss keine spirituelle Transzendenz sein. Es ist auch kein Schlafwandeln. Es ist vielmehr ein Herausnehmen von Geschwindigkeit, ein Dasein ohne Ziel. Ein Beobachten des Äußeren und sich selbst, als Teil dieses Äußeren. In gewissen Gruppen würde dieser Zustand vielleicht als Achtsamkeit bezeichnet werden. Ein meditativer Zustand im Hier und Jetzt, ganz ohne Bewertungen und Urteile. Vielleicht trifft es das auch.

Wie Gedankenlosigkeit zu neuen Ideen führt

Diese Ziellosigkeit und Gedankenlosigkeit ist es jedoch auch, die die Gemeinsamkeit des modernen Vaters mit dem klassischen Flaneur hervorbringt. Sie beide nehmen sich heraus aus dem Treiben. Sie beide betrachten die Welt aus der Vogelperspektive, obwohl sie mitten in ihr sind. Sie beide erschaffen geistigen Raum für Neues, indem sie bewusst auf Ziele verzichten. Sie beide erschaffen den Nährboden für ihre Kreativität. Sie beide sind einfach da.

Und dieser Vergleich offenbart auch die wunderbare Eigenart des Tragetuchtragens: Vater und Kind verschmelzen förmlich zu ein und derselben Person. Es gibt keine Luft mehr, zwischen diesem kleinen Körper und der väterlichen Brust. Die physiologischen Körperaktivitäten vereinen sich geradezu, das Kind beginnt die Luft des Vaters zu atmen, ganz im Bewusstsein des Vaters anwesend, die Welt durch seine Augen wahrzunehmen. So ist das Kind dem klassischen Flaneur nicht fremd – und der Vater sein Vehikel.

Photocredit: Les Anderson von StockSnap

Septemberlektüre

Der September bringt mir eine sich wunderbar ergänzende und obendrein ästhetisch sehr ansprechende Auswahl neuer Bücher. Zugegeben, das Cover Sartres, Der Ekel, macht seinem Titel alle Ehre, noch dazu passt es als einziges Taschenbuch, bei reinem Fokus auf die Herstellung, optisch nicht wirklich zum Rest der Auswahl. Doch ich bin überzeugt, dass der Inhalt dafür sorgt, dass dieses Werk den anderen in nichts nachsteht. Diese bestehen, neben dem – schon erwähnten – Klassiker des philosophischen Existentialismus, aus Michael Hempes neuestem philosophisch-literarischen Werk Die Wildnis, Die Seele, Das Nichts, der diesen August erschienen deutschen Erstausgabe Elena Ferrantes Roman Das lügenhafte Leben der Erwachsenen sowie der ebenfalls dieses Jahr erschienen Erstausgabe des Suhrkamp Jubiläumsbandes Warum lesen – Mindestens 24 Gründe, anlässlich des 70 jährigen Bestehens des Verlags.

Doch schlägt man es erst auf, besticht es förmlich durch seine elegante Schärfe

Bei letzterem kann ich schon jetzt sagen, dass ich lange kein so schönes Buch mehr in Händen gehalten habe. Allein die Schutzumschlaggestaltung macht es zu einem Hingucker. Doch schlägt man es erst auf, besticht es förmlich durch seine elegante Schärfe. Die sehr modern anmutende Schriftart, Futura Maxi, reiht sich serifenlos, jeden einzelnen Buchstaben perfekt abgegrenzt und vorzüglich kontrastierend, neben den Klassiker Garamond Roman, für den Textkörper. Das hochwertige Papier macht diese Brillanz – wie sich vermuten lässt – erst möglich.

Ferrantes Roman wie auch Hempes Werk stehen der Suhrkamp Jubiläumsausgabe qualitativ jedoch in nichts nach: Beides sind ebenfalls Hardcover in Erstausgabe. Lediglich der Blick ins Detail hebt das eine dann doch ein wenig von den anderen ab. Auch hier passt das Taschenbuch des Franzosen, in der 61. Auflage aus dem Rowohlt-Verlag, freilich nicht ins Ensemble. Ich bin mir jedoch sicher, dass es durch seine inneren Qualitäten besticht, zumal es wunderbar in meine derzeitige Phase der Beschäftigung mit dem französischen Existentialismus passt, ja gar nicht fehlen darf.

Sie sollen mich dabei unterstützen, Antworten auf tiefe gegenwärtige Fragen zu finden

Ich habe diese Auswahl zusammengestellt, um das eigene Leben auf seine Sinnhaftigkeit, seine ihm eigene Daseinsberechtigung hin, zu überdenken. Sie sollen mich einerseits dabei unterstützen, Antworten auf tiefe gegenwärtige Fragen zu finden, und andererseits anregen, mein Schreiben zu entwickeln. Zugegebenermaßen lese ich ergänzend dazu – seit ein paar Wochen – weitere Schriften von Sartre, welche ich einem eigenen Beitrag bei nächster Gelegenheit vorstellen werde. Abschließend bleibt mir nur zu sagen, dass ich mich schon auf die Lektüre freue und ich für alle vier Bücher je eine eigene Rezension plane. Diese findet ihr anschließend auf dieser Seite verlinkt sowie über die Kategoriesuche nach Buchrezensionen.

Der Ekel – Jean-Paul Sartre

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Verlag: rororo
Erscheinungstermin: 01.05.1975
352 Seiten
ISBN: 978-3-499-10581-4
übersetzt von: Uli Aumüller
Neuausgabe
D: 12,00 €

Warum lesen – Mindestens 24 Gründe – Suhrkamp Jubiläumsausgabe

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Verlag: Suhrkamp
Erscheinungstermin: 22.06.2020
347 Seiten
ISBN: 978-3-518-07399-5
D: 22,00 €

Das lügenhafte Leben der Erwachsenen – Elena Ferrante

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Verlag: Suhrkamp
Erscheinungstermin: 29.08.2020
415 Seiten
ISBN: 978-3-518-42952-5
D: 24,00 €

Die Wildnis, Die Seele, Das Nichts – Michael Hampe

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Verlag: Hanser
Erscheinungstermin: 09.03.2020
304 Seiten
ISBN: 978-3-446-26577-6
D: 26,00 €

Hast du eines der Bücher zufällig schon gelesen – Wie ist deine Meinung dazu? Oder hast du Anregungen bezüglich einer Rezension? Dann hinterlasse mir doch einen Kommentar.

Was will ich eigentlich?

Ein weiser Aikido-Meister, der östlichen Philosophie nahestehend, der abendländischen aber auch nicht vollends abgewandt, sagte mir einmal: „Schau, was du tust und die siehst, was du willst.“
Als ich das hörte, schmunzelte ich, denn es klang mir wie eine abgedroschene Lebensweisheit, gedruckt auf dem dünnen glatten Papier eines tausendfach produzierten Abreißkalenders, eines Industrieprodukts, das, um dem lebensphilosophischen Rat noch eins drauf zu setzen, diesen neben einem Ying-Yang-Zeichen in Szene setzt. Das geht nämlich immer.
Was in diesem Moment noch mitschwang, mir jedoch erst später bewusst wurde: Ich wollte einen Rat, doch diesen wollte ich beileibe nicht hören.

Das Gespräch drehte sich um meine berufliche Unzufriedenheit, die Idee einer Neuorientierung und wie das Ganze mit meinem Familienleben vereinbar ist. Irgendwann innerhalb des Gesprächs kam, wie so oft, die Frage nach dem: Was willst du denn? Meine stockende, mit einem fast unmerklichen Schulterzucken versehene Reaktion wurde ohne große Mühe vom Meister interpretiert, und er nahm mir, ebenso mit einem Schmunzeln versehen, die Antwort ab. Kurz: Auf seine rhetorische Frage kam eine rhetorische Antwort.

Schau, was du tust und du siehst, was du willst.

Wir sind nicht weiter darauf eingegangen und haben unser Gespräch damit abgeschlossen, ganz im Sinne seiner Lehrmethode: Gebe deinen Schülern am Ende des Trainings einen Denkanreiz mit auf den Weg. Eine unbeantwortete Frage, etwas offenes und unabgeschlossenes, etwas, dass das eigene Denken anregt und – im besten Fall – bis zum nächsten Training bei Laune hält, in der Hoffnung, dort die Antwort darauf zu finden. In den seltensten Fällen erhielten wir eine Antwort, meistens waren es noch mehr Fragen. Auch auf die mir gestellte Frage, die Frage, was ich denn eigentlich wolle, gab es natürlich keine Antwort. Die konnte ich mir freilich nur selbst geben. Allein eine Hilfestellung, in der Form wie ich sie bekommen habe, ist denkbar.

Was war es, dass mir an diesem Spruch nicht gepasst hat?

Zunächst einmal verstand ich die Aussage nicht. Wie kann ich denn mit den Dingen, die ich in der Gegenwart bereits tue und die scheinbar eine Leerstelle hervorbringen, ein Fehlen von etwas, durch das sich erst ein Wollen herausbilden kann, eine Projektion auf etwas schaffen, dass ich für die Zukunft tatsächlich will? Dies klingt im ersten Moment wie ein Zirkelschluss, ja fast wie ein Irrweg. Man kennt es aus Märchenerzählungen und Filmen: Jemand verliert sich in den tiefen des Waldes, und in dem Versuch einen Weg nach draussen zu finden, stellt man erschreckend fest, dass man wieder und wieder an ein und demselben Baum vorbeikommt. Man läuft im Kreis. Ganz so erschien mir auch das Wesen dieser Aussage. So konnte eine mögliche Lösung nur im Einnehmen einer neuen Perspektive zu finden sein, denn die alte Blickrichtung lässt einen erbarmungslos Kreise ziehen, von denen einer nahtlos in den anderen übergeht.

Wie aber kann so eine anders geartete Blickrichtung aussehen?

Bezogen auf die Aussage über das Wollen finde ich einen Ausweg nicht in den Dingen, die ich vermeintlich will, sondern vielmehr in der Frage, was mein Wollen überhaupt erst verursacht. Ich sehe mir also an, woher mein Wollen kommt, was die unbewusst gesetzte Prämisse hinter der Frage nach dem „Was will ich?“ ist.
Dies führt mich zu der Idee, dass mein Handeln nicht vollends von meinem Wollen bestimmt ist. Sie drückt sich in dem Bedürfnis aus, mein Leben so zu gestalten, wie es mir entspricht. Das bedeutet wiederum auch, es gibt eine Fremdbestimmtheit in meinem Leben, derer ich ausgeliefert bin, deren Wirken ich mir in meinem täglichen Tun nicht einmal gewahr werde. Denn: Wenn mein bisheriges Leben nicht meiner eigenen Vorstellung entspricht, wessen Ideen folgt es stattdessen? Und seit wann schon? Wie ist es dieser unsichtbaren Macht möglich, mich in meinen alltäglichen Handlungen und Entscheidungen so zu täuschen und mir glauben zu machen, ich selbst träfe sie?

Ich will darauf nur die ungenügende Antwort geben, dass es kindliche Konditionierungen sind sowie antrainierte Verhaltensmuster, um sich die wohlwollende Gunst der Eltern zu sichern. Ebenso angenommene Erwartungen eines sozialen Kollektivs, Gesellschaftstugenden vielleicht oder das Erfüllen gewisser Rollen im sozialen Geflecht eines Milieus. Ungenügend ist die Aussage insoweit, als dass natürlich auch das Annehmen solcher Verhaltensweisen zu irgendeinem Zeitpunkt eine Willensentscheidung war. Der Wille, so wie ich ihn heute für mich verstehe, war zu dieser Zeit jedoch für eine andere Werteordnung zuständig als ich sie gegenwärtig besitze oder zumindest für mich entwickle.
Es bleibt somit festzuhalten, dass sich durch das Darlegen der Frage, wieso man der Meinung ist, etwas zu wollen, gezeigt hat, dass ein tieferes Verständnis der eigenen Fremdbestimmung notwendig erscheint.

Was hat mich an diesem Spruch noch gestört?

Es war sein verharren in der Gegenwart. Ich wollte nach vorne, heraus aus der Situation, das Jetzt hinter mir lassen und etwas Neues beginnen. Stattdessen sollte ich mir ansehen, was ich gegenwärtig tue. Ich bin mir nicht sicher, ob dieses angestrebte Verhalten mit einem Fluchtreflex gleichzusetzen ist. Es scheint mir, als ob eine treibende Komponente den Weg nach vorne einschlägt, und versucht ist, mich von meinem Blick nach hinten abzuhalten. In jedem Fall führt es dazu, sich im Unwissen über die Unstimmigkeiten der jetzigen Situation in ein neues Abenteuer zu stürzen, auf die Gefahr hin, denselben Handlungs- und Denkmustern erneut zu erliegen.

Natürlich wird ein neues Äußeres, das Erleben neuer Situationen, die Fremdbestimmung bis zu einem gewissen Zeitpunkt überschatten. Irgendwann fliegt aber auch hier der trügerische Deckmantel auf und die treulose Wahrheit rückt in den Blick. Der Mensch spürt, wenn er auf Abwegen ist. In alltäglichen Situation ist dies ein natürlicher Impuls unseres Streben nach Unversehrtheit. Bezieht man jedoch der Konditionierung unterliegende Handlungsweisen in die Betrachtung mit ein, so sind außerordentlich hohe selbstreflexive Fähigkeiten vonnöten, um die Treiber hinter den Kulissen zu identifizieren.

Nicht jeder kann das und es kann mitunter Jahrzehnte dauern, um solche Fähigkeiten zu entwickeln. Es gibt Menschen, die bis ins hohe Alter nicht in der Lage sind, einen beobachtenden Blick auf ihr Verhalten einzunehmen. Es fehlt ihnen schlicht die Neugier für sich selbst oder die Angst vor einer übergeordneten Macht ist noch so groß, dass das Leben seinen Facettenreichtum zugunsten einer, für Aussenstehende objektiv disqualifizierten, hingegen subjektiv empfundenen, mit einer beständigen Vollmacht ausgestatteten Autorität, einbüßt.
Der neugierig beobachtende Blick auf sich selbst ist folglich von entscheidender Bedeutung, um die Gründe für eine Flucht nach Vorne sichtbar zu machen, so dass sie nicht in neuen Aufgaben und Herausforderung verschütt gehen. Denn auch wenn sie gerade nicht an der Oberfläche zu sehen sind, so schlummern sie doch nur, und treten zu gegebener Zeit, gestärkt mit neuer Kraft und im ungünstigsten Falle weiteren Anhängern in Gefolgschaft, wieder hervor.

Was hingegen war es, dass mir ein wohliges Gefühl bescherte?

Durch das Verharren in der Gegenwart kam zeitgleich auch ein Gefühl der Erleichterung, der Druck sank ab und es begann sich eine von jeglicher Scham befreite Neugier einzustellen. Eine Neugier auf mich selbst, derer es keine Rechtfertigung bedarf, ich gab mir die Erlaubnis nun über mich lernen zu dürfen. Denn ich musste die Gegebenheiten nicht unverstanden hinnehmen. Wenn mir doch der Weg nach vorne versperrt bleibt, so sagt mir niemand, nicht nach hinten blicken zu können. Durch die erforschende Rückschau können Verhaltensmuster und zuweilen auch Gegebenheiten, von wo aus eine Fremdbestimmung ihren Lauf nahm, erkannt werden.

Das wohlige Gefühl, ausgelöst durch die Rast im Jetzt, verrät vielmehr auch die Eigenart des triebhaften Impulses der Hetze nach vorne. Es ist nämlich dieser nicht einer vernünftigen Abwägung entsprungen, sonder zeigt sich als reflexhaftes Verhalten. Ja eine unsichtbare Wesensart, deren Manifestation erst durch ein ursächliches Ereignis deutlich wird. Es kann von einer Kausalität gesprochen werden, die, sobald ein bestimmtes Ereignis eintritt, diesem eine gewisse Handlung zuordnet. Die Handlung ist somit bezogen auf das Ereignis, das Ereignis selbst also ursächlich für die Handlung, wenngleich dasselbe Ereignis bei einem anderen Menschen eine völlig verschiedene Reaktion hervorrufen kann.
Was hieran ebenfalls interessant ist, wenn auch nicht entscheidend für das Erkennen der eigenen Verhaltensmuster, ist der Ursprung dieser Prägung, der sicherlich in einer frühen Erfahrung der Kindheit oder einer Imitation elterlicher Verhaltensweisen zu finden ist.

Wie lassen sich diese scheinbar unvereinbaren Gegensätze interpretieren?

Das bezeichnende der Gesamtsituation ist der Widerstreit der Empfindungen, welcher erst zu dem vordergründigen Gefühl der Zerrissenheit geführt hat. Das Spannungsverhältnis, erzeugt einerseits durch die nach vorne treibende, ja fliehende Kraft, und auf der Gegenseite die Verzögerung, ein erleichterndes zur Ruhe kommen, um sich die Situation einmal ansehen, aus ihr lernen, zu können. Mit zeitlichem wie auch emotionalem Abstand betrachtet, kann ich sagen, das Veränderung genau dieser Spannung bedarf. Veränderung, verstanden, als ein von dem gegenwärtigen Zustand verschiedener. Ein Wechsel im Beschaffensein meiner Selbst. Bin ich gegenwärtig ein Mensch mit dieser und jener Eigenschaft, diesem und jenem moralischem Wert, so kann ich durch Veränderung zu einem nachfolgenden, zukünftigen Zeitpunkt, ein ungleich anders gearteter Mensch sein, mit anderen Eigenschaften und Werten.

Würde man nur die fliehende Komponente zulassen, so könnte sich durch das Streben nach Vorne kein stabiler Zustand einstellen, obgleich es dem Anschein nach Veränderung gibt, denn man bewegt sich ja. Der Unterschied ist, dass es für eine Zustandsfestigung Rast benötigt. Erst auf einer ruhenden Plattform können sich die Dinge entfalten und festigen. Würde man hingegen nur die verzögernde Komponente zulassen, würde man zwar tatsächlich in einem Zustand verharren, man würde ihm aber auch jede Plastizität rauben. Ein erforschender Rückblick birgt gewiss Potential für Veränderung. Wirklich nutzbar gemacht wird dies aber erst durch die Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Situation, das heißt, die für die Zustandsänderung notwendige Energie muss von der fliehenden Kraft aufgebracht werden.

Was also hat mir dieser Spruch gebracht?

Durch das Nachdenken über den Sinn des Spruchs haben sich mein Begriff des Wollens und seine Implikationen erst entfalten lassen. Aus einem trotzigen „Ich will aber…!“ und „Nein, ich will das jetzt!“ wurde ein differenziertes Erforschen der zugrundeliegenden Verstrickungen mit meinen Sehnsüchten einerseits, und den einschränkenden Konditionierungen andererseits. Ich habe gelernt, mir meiner Fremdbestimmtheit gewahr zu werden und sie von meinen wahren inneren Wünschen abzugrenzen. Weiter habe ich die notwendige Ruhe gefunden, durch Unzufriedenheit geprägte Situationen nicht sofort fluchtartig zu verlassen.

Doch die wichtigste Erkenntnis war diejenige, die mir zeigte, dass es nicht darauf ankommt was ich will, sondern wieso ich etwas will. Und genau das ist vielleicht auch die Antwort auf die ausgangs genannte Aussage: „Schau, was du tust und du siehst, was du willst.“
Was nämlich tust du, damit sich ein Wollen herausbildet? Was tust du, womit du nicht einverstanden bist? Welche deiner Handlungen entsprechen nicht deiner Vorstellung von einem idealen Selbst? So könnte man die Aussage auch umformulieren: „Sieh dir an, was du tust, und du erkennst, was du nicht willst.“ Durch den ungetrübten Blick auf sich selbst und seine Handlungen, erkennt man sehr schnell, womit man nicht einverstanden ist und diese Erkenntnis ist der erste und wichtigste Schritt für die Beantwortung der Frage, was man denn eigentlich will.