Rezension: Sei kein Mann – JJ Bola

Seitdem ich Vater bin, beschäftigt mich das Thema Männlichkeit. Bis dahin waren für ich mich Geschlechterrollen im Allgemeinen und meine eigene Rolle im Speziellen von untergeordneter Bedeutung. Selbstverständlich war ich mir dem gesellschaftlichen Diskurs, beispielsweise zu Diversität oder Feminismus, bewusst, habe bei gegebener Notwendigkeit zweifelsohne eine Position der Gleichberechtigung vertreten, doch diese Notwendigkeit hatte sich bisher vorrangig auf Diskussionen im Privaten bezogen. Ich führe es darauf zurück, dass sich meine – größtenteils unbewussten – persönlichen Gefechtslinien im Laufe meines Lebens, aufgrund meiner sozialen wie familiären Herkunft, vorrangig an den Grenzen ökonomischer wie bildungsbezogener Milieus befand.

Höhere Bildung trägt zur Bewusstmachung gesellschaftlicher Ungleichheiten bei

Einen wahrnehmbaren Nachteil aufgrund meines Geschlechts hatte ich bis auf wenige Ausnahmen, vor allem solchen in früher Kindheit, welche ich mir im Laufe meiner Jugend als mir eigentümliche Schwächen einverleibt hatte, kaum ausmachen können. Für mich war es stets selbstverständlich, dass ich Menschen gleich behandle, es sei denn sie wollten mir bewusst schaden oder mich einschränken, ganz nach dem Motto: Lässt du mich in Ruhe, lasse ich dich in Ruhe, willst du mich einschränken, werde ich mich (gewaltlos) dagegen wehren. Erst durch höhere Bildung und das Erwachsenwerden wurde ich auf den Befund der geschlechtlichen Diskriminierung aufmerksam und erst durch meine Vaterschaft kam ich direkt damit in Kontakt.

Es ist tatsächlich erstaunlich, wie wenig und wie wenig tiefgreifend das Thema männliche Geschlechterrollen in der breiten Öffentlichkeit diskutiert wird. Auch wenn hier natürlich nicht direkt vom Tatbestand der Diskriminierung im Sinne einer Benachteiligung gesprochen werden kann, so werden doch über die Generationen hinweg gewisse einschränkende Stereotype geprägt, die beispielsweise durch die feministische Bewegung heute deutlicher denn je zutage treten. Denn, so wie diese Strömungen ihre sie einschränkenden Grenzen scharf beschreiben und darstellen können, so werden damit gleichermaßen auch die Bereiche außerhalb dieser Grenzen festgeschrieben. Die Bereiche, die, verallgemeinernd und denunzierend, den männlichen Teil der Bevölkerung repräsentieren sollen. Es sind nun gewissermaßen beide Seiten von dem Problem der Rollenfestschreibung betroffen.

Ein provokantes Cover aus dem neuen hanserblau Verlag

Aus diesem Grund war ich sofort neugierig auf JJ Bolas neuestes Buch „Sei kein Mann – Warum Männlichkeit ein Albtraum für Jungs ist“. Schon der Titel scheint mir eine Aufforderung an uns Männer zu sein, sich einem tradierten Rollenverständnis entgegenzustellen. Unterstützt wird das Auftreten des Buches aus dem Berliner hanserblau Verlag, eine Erweiterung des Traditionsverlags Hanser, zusätzlich durch die provokant herausstechenden und klischeehaften Farben blau und rosa, welche wohl, flächengleich diagonal aufgeteilt, einen je männlichen wie weiblichen substantiellen Anteil am männlichen Geschlecht repräsentieren sollen. Vielleicht sollen sie aber auch stellvertretend für den binären Grundcharakter unseres vererbten geschlechtlichen Weltbildes stehen. Vielleicht aber ist es auch einfach eine trendartige Vergegenständlichung eines Schlagwortes, die Verbildlichung eines effekthascherischen Hashtags, wie sie heute in den sozialen Medien vorkommen. Schließlich aber bleibt es dem Käufer überlassen, wie er das Cover interpretiert.

Bis ich begonnen habe das Buch zu lesen, war mir der hanserblau Verlag selbst kein Begriff, die Zielgruppe und das restliche Programm war mir unbekannt. Nach dem ersten Kapitel und einer kurzen Verlagsrecherche wurde mir aber schnell klar, dass JJ Bolas Buch sehr gut in das Verlagsprofil passt, welches sich auf ein „populäreres und breitenwirksames Programm“ spezialisiert hat und das Buch vermutlich in der Kategorie „aktuelle meinungsstarke Sachbücher“ rangiert. Den Fokus würde ich nach der Lektüre auf das Adjektiv „meinungsstark“ legen, denn einem journalistischen oder gar wissenschaftlichen Anspruch an Faktizität kann das Buch nicht genügen, aber das war wohl auch gar nicht bezweckt. Vielmehr schildert der Autor seine persönliche Sicht der Dinge, versehen mit Statistiken, die allgemeine Zusammenhänge darstellen und wohl als Referenz seine Aussagen unterstreichen sollen. Das Buch kann somit als subjektive Betrachtung eines durchaus existierenden Problems gelesen werden, der einführende Charakter in das Thema Sexismus und die Ausrichtung auf eine wohl jüngere Zielgruppe, dominiert das Format.

JJ Bola spricht von seinen eigenen Erfahrungen – emotional und mutig

Inhaltlich befasst sich JJ Bola in seinem Buch mit den „Mythen der Männlichkeit“, den Themen männlicher Gewalt und Aggressivität, „Liebe, Sex und Einvernehmlichkeit“ sowie der „Geschlechtergleichstellung und Feminismus“. Weiter streift er die Themen „Männlichkeit in Zeiten von Social Media“, „Männlichkeit und Sport“ sowie „Transgression und Transformation“. Das Inhaltsverzeichnis übernimmt in der deutschen Übersetzung die metaphorischen und einer Hookline ähnelnden Aussagen dem englischen Original und ergänzt sie mit den oben erwähnten Inhalten in deutscher Sprache.

Einleitend schildert der ursprünglich kongolesische Autor eingängig eine Szene aus seiner Jugend in einer Londoner Brennpunktsiedlung. Dabei schließt er sich einer Gruppe Männer aus seinem Heimatland Kongo an, allesamt – für die westliche Gesellschaft eher unüblich – Onkel genannt, obwohl keine Blutsverwandtschaft besteht, die zum Essen zu einem der Onkel händchenhaltend nach Hause gingen. Händchenhaltend, ja, auch das ist unter westlichen Männern unüblich und besonders bei Jugendlichen ruft dieses Bild Verwunderung hervor. JJ Bola war bekannt unter den Gangs des Viertels und hatte sich seine „street credibility“ erfolgreich aufgebaut, kurz: er wusste was zählt um respektiert zu werden. Doch das schien nun im Beginn des Bröckelns zu sein, nachdem ihn die anderen Jugendlichen der Gegend mit dieser auffälligen Gruppe, in traditionell kongolesischem Obergewand, gehen sahen.

Wie das Patriarchat zu JJ Bolas größtem Feindbild wurde

Neben dieser autobiographischen Hinführung zum Thema ist der restliche Teil des Buches größtenteils thesenartig abgehandelt. Der Grundcharakter der Aussagen und Forderungen ist zweifellos emotional und zeigt die persönliche Verbundenheit JJ Bolas mit dem Thema Männlichkeit oder in den Worten des Autors: dem Patriarchat. Damit bezeichnet er sein Feindbild, die herrschende Normalität und zugleich Dominanz des tradierten männlichen Rollenbildes, welches sich in allen Lebensbereichen festschreibt, „von der Familie bis hin zu Wirtschaft und Arbeitsplatz“.

Ein Feindbild, dass ihn seine Kindheit und Jugend bis hin zum Erwachsenenalter begleitet hat, als eine namenlose und unsichtbare Realität, die erst mit dem Älterwerden begreifbar wird. Er schreibt selbst, dass einer seiner „größten Beweggründe, dieses Buch über Männlichkeit zu schreiben, war, wie gerne ich solch ein Buch gelesen hätte, als ich ein Teenager war, der mit seinen eigenen Männlichkeiten zu kämpfen hatte.“
„Männlichkeiten“, dies ist auch ein Begriff, der in diesem Buch hervorgehoben wird, primär durch ein Zitat von „Tom“, „denn es gibt so viele Formen davon.“ Gemeint ist damit, dass auch das weibliche wie das neutrale Geschlecht „ihren eigenen Zugang zur Männlichkeit finden.“

Zehn Handlungsanweisungen für eine radikal neue Vision von Männlichkeit

Im letzten Kapitel führt JJ Bola überblicksartig und, dem Grundcharakter des Buches folgend, knapp, „eine Liste mit zehn Handlungsanweisungen“ auf, die den gängigen Stereotypen entgegenwirken können sowie die eigene Persönlichkeit stärken, um „eine radikal neue Vision von Männlichkeit [zu] schaffen“. Unter anderem rät er darin Jungen, jungen Männern und Männern, beispielsweise Tagebuch zu führen, um Raum für Selbstreflexion zu schaffen, indem man die eigenen Gefühle und Gedanken in den Vordergrund rückt. Ein weiterer Punkt der Liste sind männliche Support-Gruppen, in denen man unter Gleichen „sich ausheulen, lachen und einfach zusammenkommen“ kann.

Vor allem diese beiden genannten Beispiele kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Sie machen tatsächlich einen Unterschied und sollten womöglich viel umfangreicher etabliert werden. Vielleicht kann dieser Blogartikel einen Anstoß dazu geben und ich werde vielleicht noch einen Artikel zu dem Thema Männergruppen schreiben. Im Kontext Kinderbetreuung macht das in jedem Fall Sinn, aber auch bezüglich der alltäglichen Themen.

Eine Kaufempfehlung für junge Leser

In Bezug auf das Buch kann ich für jüngere Leser eine klare Empfehlung aussprechen. Älteren Lesern, vor allem solchen mit bestehendem Hintergrundwissen und einer Auseinandersetzung mit der Thematik, gilt die Empfehlung nur bedingt, denn hier wird das Buch mutmaßlich nur wenig neue Erkenntnisse bieten. Da es nur wenig aktuelle Bücher zum Thema Männlichkeit gibt, kann auch hier genau dies ein Grund für eine willkommene Abwechslung sein.

Weiter muss natürlich angemerkt werden, dass das Buch keinen Anspruch auf journalistische oder gar wissenschaftliche Genauigkeit und Gründlichkeit hinsichtlich der Recherche und Literaturverwendung bietet. Das Literaturverzeichnis besteht vorrangig aus Internetquellen, ein bunter Strauß aus Online-Zeitungen, Boulevardmedien und Blogs. Das nahezu keine Bücher gelistet sind, mag dem bewusst oder unbewusst ausgewählten Blickwinkel des Autors geschuldet sein, es ist aber auch möglich, dass es schlicht sehr wenig Literatur zum Thema gibt. Mich würde eine Literaturrecherche zum Thema tatsächlich sehr reizen. In jedem Fall bin ich gespannt, ob wir von dem Autor JJ Bola in Zukunft noch mehr hören und lesen werden.

Sei kein Mann – Warum Männlichkeit ein Albtraum für Jungs ist – JJ Bola

Ups, das Cover konnte nicht richtig geladen werden

Verlag: hanserblau
Erscheinungstermin: 17.08.2020
160 Seiten
ISBN: 978-3-446-26798-5
D: 16,00 €

Verlagswebsite: Sei kein Mann – JJ Bola

Rezension: Das lügenhafte Leben der Erwachsenen – Elena Ferrante

Ich bin mir nicht mehr sicher, was mich dazu veranlasst hatte, „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“, von Elena Ferrante, zu kaufen. Rückblickend war es wahrscheinlich meine Neugier, ja, schon fast ein voyeuristisches Verlangen, tiefe Einblicke in das Leben einer anderen Person zu erlangen, zu verstehen, wie sie mit den Unzulänglichkeiten des Lebens umgeht, ganz besonders in der Kindheit. Auch wenn ich bald Mitte Dreißig und verheiratet bin, einen Sohn und einen festen Job habe, mit dem ich meine Familie locker über die Runden bringe, quasi all das, das man aus traditionellen Rollenverständnis heraus für ein vollständiges Erwachsenenleben braucht, so hadere ich doch noch regelmäßig, wenn auch nicht mehr täglich, mit meiner Kindheit und Jugend. So waren meine ersten vierzehn Lebensjahre doch deutlich vernebelter und gegensätzlicher, als die der – zu Beginn des Romans zwölfjährigen – Neapolitanerin, Giovanna, der Hauptfigur in Ferrantes neuestem Roman.

Ferrantes, Giovanna, ein junges Mädchen aus gutem Hause

Die Blickrichtung des Entwicklungsromans wandert von der Auseinandersetzung der Protagonistin mit sich selbst, zum Zeitpunkt der sich einstellenden Pubertät, hin, zu ihrem direkten und indirekten, familiären wie freundschaftlichen, Umfeld, und wieder zurück.
Aus einem gebildeten und gut situierten Elternhaus stammend, das beschreibt Ferrante im Laufe der Erzählung auf einer zweiten Ebene detailreich durch die sozialräumliche Struktur Neapels, erlebt die junge Giovanna schon früh, was es bedeutet, sich in intellektuellen Kreisen zu bewegen. Der Vater, Andrea, Lehrer der Fächer „Geschichte und Philosophie am namhaftesten Gymnasium Neapels“ und Co-Autor wissenschaftlicher Aufsätze, die er zusammen mit seinem engsten und ältesten Freund, Mariano, verfasst. Die Mutter, ebenfalls Gymnasiallehrerin, unterrichtet die Fächer Latein und Griechisch und korrigiert in ihrer Freizeit Liebesromane.

…bei ihr zu Hause ist Dialekt tabu.

Auf der Gegenseite, oder besser unterhalb – räumlich wie sozial gesehen – ihres kindlich begrenzten und bekannten Lebensraums, befindet sich die Familie väterlicherseits. Im Grunde ist es nur noch Giovannas Tante, Vittoria, und deren Wahlfamilie, welche – seltsamerweise – aus der Ehefrau und den Kindern ihres verstorbenen Geliebten besteht. Sie leben in der Zona Industriale, von Giovannas Elternhaus aus gesehen, welches sich im hochgelegenen und wohlhabenden Stadtviertel Rione Alto, genauer in der Via San Giacomo dei Capri, befindet, liegt Vittorias Wohnort am anderen Ende der Stadt und gleichzeitig auch in einer der heruntergekommensten und wirtschaftlich schwächsten Gegenden Neapels. So wundert es nicht, dass auch Vokabular und Ausdrucksweise die sozialen und ökonomischen Gegebenheiten widerspiegeln. Ferrante, oder besser Giovanna, unterscheidet hier zusätzlich zwischen Dialekt und Italienisch. Findet sich in der Zona Industrale vorwiegend Dialekt wieder, so spricht man in Rione Alto einwandfreies Italienisch; Giovanna hingegen kann selbst gar kein Neapolitanisch sprechen und versteht dies mitunter auch nicht immer vollends – bei ihr zu Hause ist Dialekt tabu.

Wie ein einzelner Satz das ganze Leben verändert

Giovannas Eltern haben Vittoria bis zu ihrem zwölften Lebensjahr vollständig aus der Familie herausgehalten. Giovanna wusste nicht einmal wie sie aussah, sie wusste nur von ihrer „Hässlichkeit und Boshaftigkeit“; aus Nellas, Giovannas Mutter, und Andreas Sicht ist es eine dunkle Vergangenheit, die sie bewusst vor ihrer Tochter verbergen wollten. Diese wohlmeinende Ausblendung konnten die Eltern aufrecht erhalten, bis Giovanna eines Abends ein Gespräch der beiden belauschte, in dem ihr Vater schlussfolgerte, seine Tochter komme nun ganz nach ihrer Tante Vittoria. Giovanna war zu diesem Zeitpunkt ein Mädchen, das zusehends mehr von ihrer Pubertät vereinnahmt wurde. Sie nahm die Veränderungen ihres Körpers wahr, fühlte sich immer unwohler, entdeckte neue Ebenen von Scham und Angst. Zudem wurden ihre Leistungen in der Schule schlechter, was überhaupt erst zu dem Gespräch der Eltern, in dem besagter Satz fiel, geführt hat.

So ist es nur verständlich, dass das junge Mädchen den väterlichen Vergleich zunächst auf ihr Äußeres bezog. Sie wollte nun unbedingt wissen, wie ihre Tante aussieht und ob sie wirklich Ähnlichkeit mit ihr besitze.
Es dauerte nicht lang und sie hatte einen ersten Kennenlerntermin mit Vittoria vereinbart. Schon das zuvor geführte Telefonat wühlte sie auf und verschreckte sie, ob der derb-vulgären Sprache ihrer Tante, doch dass dieses kommende und die darauffolgenden Treffen ihre Sicht auf die Welt, wie sie sie bisher kannte, völlig auf den Kopf stellen würde, ahnte sie bis dahin noch nicht.

Der kindliche Blick hinter die Kulissen, oder: Realität

Ferrantes Erzählung entwickelt sich von hier ab in zwei Strängen, einem Hauptstrang und einem unterschwelligen Nebenstrang, der Giovannas aufkommende Sexualität schemenhaft und völlig ohne Ausschmückungen skizziert. Im Hauptstrang fächert sich Giovannas bisheriges, eher zurückhaltend und ereignisloses Dasein, durch den Eintritt Vittorias in ihr Leben, rasant in ein emotionales Beziehungsgeflecht auf. Es entstehen Verbindungen zu neuen Menschen und neue Rollen kommen hinzu, die Giovanna gekonnt zu spielen weiß. Sie lernt, dass nicht immer alles so ist, wie es im ersten Moment zu sein scheint und sie lernt, dass auch sie diese Erkenntnis gewinnbringend für sich nutzen kann. Sie beginnt die Menschen in ihrem Umfeld zu täuschen, sie beginnt von Dingen zu erzählen, die ihr einen Vorteil oder zumindest keinen Nachteil einbringen, kurz: Sie beginnt den Leuten zu erzählen, was sie hören wollen.

…eine Welt voller Begierde und Täuschung

Die Erkenntnis, das sich hinter ihrer, bis zu diesem Zeitpunkt, kindlichen Welt, noch eine Weitere, eine Welt voller Begierde und Täuschung, verbirgt, macht ihr gleichwohl schwer zu schaffen. Ihr bisheriges Leben gerät aus den Fugen, und auch das ihrer Eltern bleibt davon nicht unberührt, nachdem klar wird, dass sich auch ihr engster Familien- und Freundeskreis der Heuchelei nicht entzogen hat. Giovanna taucht von hier an mit einem Kopfsprung ein in ein pubertäres Lebensloch, dunkel und voll von Zweifeln, Ängsten und neuen Empfindungen. Die vormals elterliche Zuflucht, der sichere Hafen, beginnt sich aufzulösen. Doch auch Vittoria scheint ihr kein verlässlicher Anker zu sein, wenngleich sie Giovanna sogar vom religiösen Glauben überzeugen will, den diese von Kindertagen an gelernt hat abzulehnen, ganz im Sinne einer aufgeklärten Erziehung.

Es ist eine Zeit des Pendelns zwischen einer brüchig werdenden Vertrautheit elterlicherseits und einer reizenden Grenzüberschreitung auf Seiten der Tante. Hier lernt sie nochmals eine andere, scheinbar ursprünglichere, unverfälschtere Realität kennen. Ohne kluge Worte, die die realen Dinge, die dahinter liegen, verschleiern. Eine für sie sehr unmittelbare Lebenserfahrung, wenngleich sie durch ihre Bildung und ihren Intellekt diese Welt äußerst gut mit gebotenem Abstand betrachten kann und die Unterschiede zu ihrem bisherigen Leben herausarbeitet.
So verstreichen die Erlebnisse in Ferrantes kurzweiliger Erzählung bis Giovanna gegen Ende die Erfahrung einer – zugegebenermaßen – unerwiderten Liebe erlebt, die dem Leser doch noch einmal tröstlich ihre Jugendlichkeit und Unerfahrenheit, obgleich ihrer intellektuellen Aufgeklärtheit, vor Augen führen.

Ein gelungener Roman, der dazu einlädt, die eigene Jugend noch einmal zu reflektieren

Gesamthaft betrachtet bleibt für mich einerseits der Eindruck eines wunderbar geschriebene Romans zurück, der wenig Zweifel an der Echtheit seiner erzählten Gegebenheiten aufkommen lässt. Die Sprache passt sich hervorragend den erzählten Szenen an und kann einen sowohl mitreißen, sowie sie einem auch die nötigen Pausen zum Verarbeiten des vorher gelesenen einräumt. Hier zeigt sich – aus meiner Sicht – der erfahrene Autor, der es vollends versteht, den Leser zu führen und zugleich den nötigen Raum lässt, um die eigene Bildwelt gedanklich aufzubauen.
Andererseits hinterlässt der Roman bei mir auch ein unterschwelliges Gefühl der Wehmut, denn Giovannas Erfahrung in diesem frühen Lebensabschnitt sind doch sehr aufgeklärt, selbstbestimmt und umfassend. So kann ich das aus meiner Jugend nicht erinnern. Das beschriebene pubertäre Lebensloch hat bei mir selbst zwar nicht bis heute angehalten, die Erlebnisse darin, und gleichfalls ihre Auswirkungen auf meine Persönlichkeit und mein Leben, habe ich bis heute nicht gänzlich verstanden und verarbeitet. Es scheint mir, und das schließe ich aus diesem – zugegebenermaßen – kleinen Einblick in das Leben eines jungen Mädchens, als ob sie ohne große Blessuren aus dieser pubertären Phase wieder heraustreten könne.

Alles in allem eine absolute Leseempfehlung meinerseits. Als Ferrante-Neuling hat mich die Autorin sprachlich wie erzählerisch umfassend überzeugt und ich werde mich demnächst aufmachen, Ferrantes hochgelobte Buchreihe, „Neapolitanische Saga“, bestehend aus vier Bänden, zu besorgen.
Sobald es soweit ist, erfahrt ihr es natürlich hier auf dem Blog sowie auch auf Instagram.

Das lügenhafte Leben der Erwachsenen – Elena Ferrante

Ups, das Cover konnte nicht richtig geladen werden

Verlag: Suhrkamp
Erscheinungstermin: 29.08.2020
415 Seiten
ISBN: 978-3-518-42952-5
D: 24,00 €