Wie kann er das nicht hören, frage ich mich. Ich würde mir gerne die Ohren zuhalten, so laut ist das. Je mehr ich darüber nachdenke, umso klarer wird mir, dass das sein gewohntes Hintergrundrauschen ist. Ein natürliches Klangbild seines Daseins, das ihm Vertrautheit vermittelt. Wo ich innerlich zusammenzucke, wird das Bild für ihn erst vollständig. So auch bei dem ohrenbetäubenden Lärm des Martinshorn eines Krankenwagens, der direkt an uns vorbeirauscht.
Zu Hause in der Anonymität der Großstadt
Doch das Kind schläft ganz friedlich. Er ist es gewohnt, sich – in der Hektik und dem Trubel der Großstadt – eine Auszeit zu gönnen. Er ist ein Meister darin, inmitten all der geschäftigen Anonymität, in sich zu kehren. Er klinkt sich aus, spielt nicht mit, bei den gesellschaftlichen Spielchen, die wir uns im Laufe der Zeit zu Eigen gemacht haben. Zeitdruck und Erscheinungsbild: Dinge, die ein Baby nicht interessieren.
Die moderne Vaterrolle – immer noch ein Fremdkörper in der Gesellschaft
Was jedoch heraussticht, das bin ich – so bilde ich es mir zumindest ein. Das Kind ist natürlich nicht freischwebend, also nicht körperlich, auch wenn das für seinen geistigen Zustand sehr wohl zutreffen mag. Nein, ich trage das Kind direkt an mir, im Tragetuch. Jenes krakenartige Ungetüm stofflicher Beschaffenheit, bei dessen Anblick sich auch geübten Denkern die Bindetechnik nicht vollends erschließt. Und dieses Bild ist auch dem eingefleischten Großstädter noch etwas fremd. Es scheint mir, als habe ich mich noch nicht vollständig in das natürliche Rauschen der Stadt integrieren können.
Der klassische Flaneur – unauffälliger Teil inmitten des Stroms
Ganz anders der klassische Flaneur. Seine Unauffälligkeit zeichnet ihn aus. Er geht förmlich unter im pulsierenden Strom aus Menschen. Alle scheinen ein Ziel zu verfolgen und doch lebt jeder für sich selbst. Der Flaneur ist Beobachter und Teilnehmer zugleich. Er versteht es, sich unauffällig in der Großstadt zu bewegen. Hier ist sein natürlicher Lebensraum. Und trotz dieser Befangenheit schafft er es, eine Metaebene zu erreichen.
Durch Entschleunigung zu mehr Gelassenheit
Das muss keine spirituelle Transzendenz sein. Es ist auch kein Schlafwandeln. Es ist vielmehr ein Herausnehmen von Geschwindigkeit, ein Dasein ohne Ziel. Ein Beobachten des Äußeren und sich selbst, als Teil dieses Äußeren. In gewissen Gruppen würde dieser Zustand vielleicht als Achtsamkeit bezeichnet werden. Ein meditativer Zustand im Hier und Jetzt, ganz ohne Bewertungen und Urteile. Vielleicht trifft es das auch.
Wie Gedankenlosigkeit zu neuen Ideen führt
Diese Ziellosigkeit und Gedankenlosigkeit ist es jedoch auch, die die Gemeinsamkeit des modernen Vaters mit dem klassischen Flaneur hervorbringt. Sie beide nehmen sich heraus aus dem Treiben. Sie beide betrachten die Welt aus der Vogelperspektive, obwohl sie mitten in ihr sind. Sie beide erschaffen geistigen Raum für Neues, indem sie bewusst auf Ziele verzichten. Sie beide erschaffen den Nährboden für ihre Kreativität. Sie beide sind einfach da.
Und dieser Vergleich offenbart auch die wunderbare Eigenart des Tragetuchtragens: Vater und Kind verschmelzen förmlich zu ein und derselben Person. Es gibt keine Luft mehr, zwischen diesem kleinen Körper und der väterlichen Brust. Die physiologischen Körperaktivitäten vereinen sich geradezu, das Kind beginnt die Luft des Vaters zu atmen, ganz im Bewusstsein des Vaters anwesend, die Welt durch seine Augen wahrzunehmen. So ist das Kind dem klassischen Flaneur nicht fremd – und der Vater sein Vehikel.
Photocredit: Les Anderson von StockSnap